Wirtschaft Interview : Hannes Androsch: "Wir lügen uns in die eigene Tasche"

Hannes Androsch blickt auf eine politische Karriere als Finanzminister und Vizekanzler zurück und ist als Industrieller mit seinem Selbstverständnis als Citoyen gesellschafts-, wirtschafts- und wissenschaftspolitisch engagiert.

Hannes Androsch blickt auf eine politische Karriere als Finanzminister und Vizekanzler zurück und ist als Industrieller mit seinem Selbstverständnis als Citoyen gesellschafts-, wirtschafts- und wissenschaftspolitisch engagiert.

- © AIT / Johannes Zinner

Herr Dr. Androsch, hat Europa noch eine Chance seinen Wohlstand zu behalten oder haben wir bereits alles verspielt?

Hannes Androsch:
Europa war – wenn man es vereinfacht will – vor der Entdeckung Amerikas und der Umsegelung Afrikas in Richtung Indien und den Gewürzinseln lange Zeit das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Welt. Das hat spätestens mit dem Ersten Weltkrieg sein Ende gefunden.

Heute sind wir mit geopolitischen Machtkämpfen konfrontiert und es gibt niemanden, um – allein wird das niemand schaffen – in Zusammenarbeit in das planetarische Geschehen ein Mindestmaß an Ordnung zu bringen. Von der Gewichtung her können das nur die Amerikaner mit den Chinesen.

Der von mir sehr geschätzte Herfried Münkler sieht in seinem Buch „Welt in Aufruhr“ eine Pentarchie als Lösung, also eine Fünferherrschaft, zu der neben den zwei genannten noch Indien, Russland und Europa gehören sollten. Diese Herstellung des Gleichgewichts der fünf Großmächte hat aber bereits im 19. Jahrhundert nicht funktioniert, wie das Beispiel vom Wiener Kongress zeigt. Auch wenn man darüber streiten kann, wann es zerfallen ist.

Europa krankt auch heute an allen Ecken und Enden…


Androsch:
Unter diesen Umständen muss sich Europa klar werden, welche Rolle es spielen will und kann, wie das zu erreichen ist, ohne sich in belehrend besserwissendem missionarischem Gehabe zu verlieren, um das sich im Rest der Welt überhaupt niemand mehr schert, und dabei verbunden mit Überregulierung und ideologischem Irrwitz selbst zu strangulieren und aus Europa ein Freilichtmuseum zu machen.

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  • 2014, Businessportrait, Dr Hannes Androsch, Fotostudio Wien, Photo Simonis Wien, Portrait
    "Wir haben in Österreich die höchsten Arbeitskosten, die höchsten Energiekosten, die höchsten Steuern, die höchste Inflation."

    Hannes Androsch

"Die Länder sind finanziell ausgeblutet"

Wir verlieren laufend an Wettbewerbsfähigkeit – was hat das zur Folge?

Androsch:
Wir haben in Österreich die höchsten Arbeitskosten, die höchsten Energiekosten, die höchsten Steuern, die höchste Inflation. Aber wir freuen uns, dass die Inflationsrate zuletzt gesunken ist – die dennoch, mindestens doppelt so hoch ist wie in Deutschland, der Schweiz oder den Niederlanden. Wir neigen dazu, uns ununterbrochen – zumindest was die offiziellen Darlegungen anlangt – in die eigene Tasche zu lügen.

Allerdings unterschätzen die Politiker in diesem Punkt ihre Wählerschaft, die sehr wohl bemerkt, dass viele Lebensmittel derselben Firma in Deutschland 15 Prozent billiger sind als in Österreich sowie in Kärnten über der Grenze in Slowenien das Gemüse und diverse andere Lebensmittel. Daher darf man sich nicht wundern, wenn die Glaubwürdigkeit der früheren politischen Kräfte abgestürzt ist und die Menschen resignieren oder nach links – wie in Salzburg oder davor bereits in Graz – zu den Extremen abwandern. Wie man so zu einer Regierungskonstellation kommen kann mit einer Perspektive und der Kraft, etwas umzusetzen, ist unter den gegebenen Umständen – und wir sind in einem Superwahljahr – fraglich. Und das ist höchst beunruhigend.

Gibt es in Österreichs derzeit auch etwas Positives?


Androsch:
Im Augenblick leben die Österreicher noch in einer Biedermeierlaube. Im Westen geht das auch noch gut. Es geht zwar dem österreichischen Fremdenverkehr nicht berauschend, denn die Leute fliegen sowohl im Winter als auch im Sommer ins Ausland: in die Türkei, nach Thailand, nach Sri Lanka, Indonesien oder in die Dominikanische Republik, weil Fliegen ja vergleichsweise nichts kostet. Womit wir auch ein Tourismusproblem haben, immerhin ein wichtiger Teil unserer Wirtschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten.

Die Hotels schließen und Zweitwohnsitze werden eröffnet. In den Gemeinden gibt es immer weniger Gasthöfe, kleine Gemeinden haben nicht einmal mehr ein Wirtshaus, geschweige denn einen Pfarrer, einen Greißler, einen Bankomaten – ja sogar ein Postkastl sucht man vergebens. Du brauchst ein Auto oder eine Hilfe mit Auto, damit du überhaupt einkaufen gehen kannst oder zu einem Arzt kommst. Landärzte gibt’s auch keine mehr. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Gemeinden am Rande der Zahlungsfähigkeit sind und die notwendigsten Instandhaltungen bei Kanal, Wasser, Straßen usw. nicht mehr leisten können, geschweige denn Neues bauen wie eine Volksschule oder einen Kindergarten.

Die Länder sind finanziell ausgeblutet und der Bund tut so, als ob das Geld auf den Bäumen wüchse oder von der Frau Holle komme. Und hier droht uns das nächste Schlamassel, das nicht wahrgenommen wird: Wir machen zu den hohen Steuern noch hohe Schulden dazu und außerdem sind diese Ausgaben nicht treffsicher. Zu sehen am Mangel im Spitalswesen, bei der ärztlichen Versorgung, bei der Altersvorsorge, bei der Infrastruktur, ob Bahn, Schnellbahn oder Autoanbindungen, Elektroleitungen, Windräder, Solarkraft und vieles mehr.

Es wird alles verhindert und verboten und es wird alles vorgeschrieben. Es ist bald so, dass sie einem noch vorschreiben, wie wir mit welchem Löffel und mit welcher Hand die Suppe essen sollen. Also unter Freiheit, persönlicher Freiheit und Selbstverantwortung und Gestaltung der eigenen Lebensmöglichkeiten habe ich mir ein Leben lang ‘was anderes vorgestellt. Und das ist die Hilflosigkeit im Großen, die sich in diese punktuellen Wichtigtuereien und Alibihandlungen flüchtet und noch mehr Schaden anrichtet.

"Um Lichtjahre entfernt"

Der Bildungsbereich liegt Ihnen – wie man spätestens seit dem Bildungsvolksbegehren weiß – besonders am Herzen. Hat sich in den mehr als zwölf Jahren etwas geändert?

Androsch:
Ja, es ist dramatisch schlechter geworden. Es wurde als Belästigung empfunden und nichts umgesetzt. Wir haben im Bildungswesen ein Welt-Unkulturerbe von ungenügender elementarpädagogischer Ausbildung, Kinderkrippen und ganztägigen Kindergärten. Wir haben keine Ganztagsschulen. Wir haben das Bildungssystem der Maria Theresia, das nicht für das digitale Zeitalter geeignet ist. Und wir haben ein Schulsystem, in dem die Ferien durch gelegentliche Wochen des Schulunterrichts unterbrochen werden, wo nicht einmal Zeit für zehn Minuten Körperertüchtigung bleibt. Mit dem Ergebnis, dass Lehrer wie Eltern überfordert sind und wo Bildungsbürokraten laufend neue Regeln vorschreiben, die mit der Praxis und den Notwendigkeiten des digitalen Zeitalters nichts zu tun haben.

Wir sind in Europa eines der wenigen Länder, das nicht schon in der Volksschule iPads hat, um den Informatikunterricht möglich zu machen und die Lehrer dafür ausgebildet hat. Früher hat’s geheißen: lesen, rechnen, schreiben. Jetzt gehört Informatik – nicht programmieren – dazu. Also davon sind wir um Lichtjahre entfernt und erst recht im Rückstand.