Koalition Österreich 2024 : Regierungsbildung Österreich: Kommt Dreierkoalition in der "unregierbaren Republik"?
Inhalt
- Wie unterschiedlich die Parteien ticken
- Druck aus der Wirtschaft wird „höllisch“
- Wirtschaftliche Reformen nötig
- Dreierkoalitionen in Europa
- Was es für eine Einigung braucht
- Republik muss sparen: Von Steuererhöhungen und Sparpaketen
- Grün-Türkis hinterlässt Budgetloch: Defizit der Staatskassen höher als gedacht
Weil FPÖ-Spitzenkandidat Herbert Kickl im Bierzeltmodus seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Nationalrat zur Fahndung ausschreiben wollte, fahndet er nun vergeblich um Koalitionspartner, wie der scheidende Vizekanzler Werner Kogler bei seiner ersten Rede in der neuen Gesetzgebungsperiode im Nationalrat treffend formulierte. Die rhetorischen Tabubrüche wird Herbert Kickl wohl noch eine Zeit lang auf der Oppositionsbank abbüßen müssen, ehe er sich vielleicht rehabilitiert oder die Absolute bei der nächsten Wahl holt. Beides ist wohl für die Zukunft nicht ausgeschlossen.
Nach der Nationalratswahl vom 29. September 2024 liefen die Drähte zwischen dem Ballhausplatz und dem Leopoldinischen Trackt in der Hofburg heiß. Bundespräsident Alexander van der Bellen scherte aus der üblichen Tradition aus und erteilte dem Wahlsieger FPÖ keinen Regierungsauftrag, weil eh keiner mit ihr koalieren wolle. Diese Vorgehensweise dürfte wohl nicht erst am Wahlabend vom Bundespräsidenten erdacht worden sein, zu orchestriert wirkten die Geschehnisse der darauffolgenden Tage. Dass es bereits länger Absprachen unter den Parteien gab, um den selbst ernannten „Volkskanzler“ Herbert Kickl zu verhindern, darüber spekuliert das Land schon länger.
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Der FPÖ hat man jedenfalls billig zu einer Märtyrerrolle verholfen, auch wenn es natürlich der Tatsache entspricht, dass Demokratie auch bedeutet, Mehrheiten finden und Kompromisse machen zu müssen.
Bedenklich ist nur die Zeitqualität, in der all dies passiert. Das Land steckt in der längsten Rezession seit 1946 und obwohl sich nun beim Reformbedarf alle einig sind und sich das Wahlergebnis schon seit rund einem Jahr abzeichnet (man beachte die Umfragen im Februar 2024), hat es die Türkis-Grüne Regierung nicht zuwege gebracht, das Ruder herumzureißen. Man ist sehenden Auges in die Niederlage gerannt.
Nicht nur der Reformbedarf im Staate ist groß, sondern auch die Beharrungskräfte in den Parteien.
Wie unterschiedlich die Parteien ticken
Am Wahlabend brachten es die Parteien zustande, die Gesetze der Physik zu brechen und sich in multiple Parallelrealitäten zu flüchten: so erklärten sich allesamt auf die eine oder andere Weise zum Wahlsieger. Selbst der objektiv betrachtet größte Wahlverlierer, nämlich Vizekanzler Werner Kogler von den Grünen betonte, man wolle weitermachen, wie bisher.
Nicht nur der Reformbedarf im Staate ist groß, sondern auch die Beharrungskräfte in den Parteien. Kanzler Karl Nehammer hat die denkbar undankbare und strategisch ungünstige Aufgabe, nun eine Reformregierung zu bilden, die vieles revidieren soll, was die ÖVP in ihrer nun fast schon 40-jährigen Regierungsbeteiligung mitgeschaffen hat. Und der Druck in der ÖVP, die noch verbliebenen Pfründe der Macht zu sichern, ist hoch. Ebenso wie in der SPÖ, die mit Andreas Babler nicht nur auf den falschen Kandidaten, sondern auch auf das falsche Programm gesetzt hat.
Erbschafts- und Vermögenssteuern wird es in einer wirtschaftsliberalen „Zuckerlkoalition“ mit ÖVP und NEOS wohl nicht geben. Ebenso wenig die 32-Stunden-Woche. Und wie man sich bei einer dringend anstehenden Pensionsreform treffen will, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Kürzungen im Sozialstaat und ein späteres Pensionsantrittsalter kann Babler kaum akzeptieren.
In der Migrationsfrage muss die ÖVP Härte zeigen, um nicht noch mehr Richtung FPÖ auszurinnen. Mit der Babler-SPÖ ist auch das wohl kaum zu machen. Was also wirft man einer Sozialdemokratie hin, die nicht nur das schlechteste Wahlergebnis in der 2. Republik errungen hat, sondern sogleich wieder öffentlichkeitswirksam eine Führungsdebatte (Stichwort Rudi Fußi) vom Zaun bricht? Die SPÖ steht fast bei jedem Kompromiss vor der ultimativen Zerreißprobe
Mit den NEOS wird sich die ÖVP wohl bei Reformen für den Wirtschaftsstandort einig, doch die Truppe von Beate Meinl-Reisinger hat als zentrale Forderung ausgegeben, 20 Milliarden Euro im System einzusparen. Sie sind nicht nur gegen die Zwangsbeiträge bei den Kammern, sondern auch gegen die „Zwangssteuer“ beim ORF. Letztere ist eine zentrale Wahlkampfforderung der NEOS.
Was wirft man also der selbsternannten Reformpartei hin, die nur mit minimalem Zuwachs gesegnet immer nur das Stützrad dieser Dreierkoalition sein kann? Die offene Ablehnung der Neutralität bei den NEOS steht dem jüngsten Neutralitätsbekenntnis von Kanzler Nehammer am Nationalfeiertag diametral entgegen. „Wir sind nicht neutral und sollten es auch nicht sein“, äußerte sich etwa NEOS-Parteimitgründer und Mastermind Veit Dengler im Wahlkampf, der nun für seine Partei in den Nationalrat eingezogen ist.
Und selbst wenn man sich auf Posten und Programm einigt, die Zentrifugalkräfte werden mit jedem weiteren Monat Wirtschaftskrise im Land stärker.
Druck aus der Wirtschaft wird „höllisch“
Kanzler Nehammer ist aber unter Zugzwang, schnell eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Es braucht schließlich rasch Beschlüsse, um die negativsten Folgen für die Wirtschaft abzufedern. Allen voran die Verlängerung der Strompreiskompensation, ohne die die heimische Industrie im internationalen aber auch im europäischen Wettbewerb hoffnungslos unterlegen ist.
Österreich ist das einzige Land, das keinen Kompensationsmechanismus für die hohen Energiepreise derzeit hat. Weiters muss eine Entlastung bei den Lohnsteuern folgen. Nicht nur die Lohnnebenkosten für die Unternehmen müssen runter, sondern auch die Lohnsteuern insgesamt. Die Menschen erwarten sich mehr Netto vom Brutto. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden Nehammer also keine Kompromisse verzeihen. Die wird er aber machen müssen, um zumindest die SPÖ ins Boot zu holen.
Hinzukommt, dass die FPÖ bei der Wahl mehrheitlich von der Gruppe der Erwerbstätigen gewählt wurde. Arbeiter, Angestellte und sogar Selbstständige votierten diesmal mehrheitlich für die Freiheitlichen. Bei Letzteren lag man mit der ÖVP gleich auf. Dennoch zeigt dies, wo die ökonomisch relevanten Wählerkohorten ihre Sympathien gelassen haben. Liefert Karl Nehammer keine Performance ab, dann wird der Druck aus der Wirtschaft kaum auszuhalten sein.
Die Menschen erwarten sich mehr Netto vom Brutto. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden Nehammer also keine Kompromisse verzeihen.
Wirtschaftliche Reformen nötig
Bei der Wettbewerbsfähigkeit im Land herrscht Alarmstufe Rot. Es braucht rasch Lösungen für die Industrie und die Bauwirtschaft. Die Herbstlohnrunden dürfen nicht zu hoch ausfallen, denn das wäre weiterer Sprengstoff für ÖVP und SPÖ. Österreich ist Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum in der EU. Es steht ein harter Sparkurs an und gleichzeitig zahlreiche Zukunftsinvestitionen, beispielsweise in die Energieinfrastruktur.
Für die ÖVP die Quadratur des Kreises. Österreich ist nicht nur ein Hochsteuer- sondern auch ein Hochlohnland geworden und trotzdem steigt das Budgetdefizit und sinkt die Leistung des Staates.
Wo wird man sich also das fehlende Geld holen? Nehammer hat „keine neuen Steuern“ versprochen. Der Thinktank Agenda Austria hat ausgerechnet, dass die Abschaffung des Klimabonus jährlich 400 Millionen Euro, die Abschaffung der Bildungskarenz 500 Millionen Euro, eine geringere Subvention des Klimatickets 400 Millionen Euro, eine Evaluierung der Unternehmensförderungen im Bereich „grüne Transformation“ mindestens 500 Millionen Euro, die Aliquotierung der ersten Pensionsanpassung 200 Millionen Euro und eine Reduktion des Finanzausgleichs auf Vorkrisenniveau rund eine Milliarde Euro bringen würden.
Mittelfristig können durch eine Steigerung des tatsächlichen Pensionsantrittsalters um ein Jahr jährlich 2,5 Milliarden Euro eingespart werden. Gleichzeitig ist der Investitionsbedarf in Infrastruktur im Land enorm. Um die Wettbewerbsfähigkeit rasch wieder zu verbessern, braucht es akute Radikalmaßnahmen. Ob ÖVP und SPÖ hier handlungsfähig werden, darf ernsthaft bezweifelt werden.
Dreierkoalitionen in Europa
Die Ausgangslage für eine Dreierkoalition ist also denkbar schlecht. Blickt man aber nach Europa, so wird dieses Modell zunehmend zur Regel. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in über 20 weiteren EU-Ländern sind Koalitionen zwischen drei oder mehreren Parteien inzwischen üblich.
Nicht selten sitzt die stimmenstärkste Partei dabei nicht im Boot, wie etwa in Schweden, wo die drittplatzierte Moderate Sammelpartei mit zwei Kleinparteien regiert und die zwei stimmenstärksten Parteien gar nicht in der Regierung vertreten sind. Auch das kann funktionieren.
Wie man aber am Beispiel Deutschland sieht, kann es auch zu gewaltiger Unstabilität führen. Vor allem, wenn man eine Politik verfolgt, die dem Wirtschaftsstandort und dem Wohlstand schadet, wie es der Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck in Deutschland tut.
Was es für eine Einigung braucht
Unregierbare Verhältnisse drohen nur, wenn die Parteien nicht fähig sind, den Blick auf das Wesentliche zu werfen. Jede soziale Verteilungspolitik ist ebenso von vornherein zum Scheitern verurteilt wie eine ambitionierte Klimapolitik, wenn der Wohlstand weiterhin erodiert. Auch wird man nicht tausende von Zuwanderern aus dem Land werfen können.
Es braucht für alle Menschen wieder echte Perspektiven in diesem Land. Den wirtschaftlichen Verfall des Landes zu stoppen, muss also die erste Priorität von allen Parlamentsparteien sein. Dafür braucht es einen ideologiebefreiten, staatstragenden Zusammenhalt. Staatsräson vor Parteiräson.
Selbst Bundespräsident Alexander van der Bellen bekennt sich dazu, dass es ohne schmerzhafte Reformen nicht gehen wird. Nur Ergebnisse zählen und nicht Umfragen und Parteitaktik. Das müssen nun die Parteienvertreterinnen- und Vertreter verinnerlichen.
Daran wird schließlich auch die FPÖ gemessen werden. Herbert Kickl wird beweisen müssen, ob er nun für Österreich mitarbeiten, oder nur gegen das „System“ wettern kann. Die stimmenstärkste Partei hat zwar nicht das Kanzleramt, aber gewiss die Themenführerschaft.
Und ÖVP, SPÖ und vermeintlich auch die NEOS sowie die Grünen werden beweisen müssen, dass es ihnen bei Regieren nicht nur um Macht uns Posten geht, denn sonst dürfte das „letzte Wort“ für einen Volkskanzler Kickl tatsächlich noch nicht gesprochen ein.
Republik muss sparen: Von Steuererhöhungen und Sparpaketen
Die ersten Infos, die aus den Sondierungsgesprächen durchgesickert sind, stimmen die Wirtschaft wenig optimistisch. Seit Monaten kommt der einhellige Appell von Unternehmen aber auch von Interessensvertretungen wie Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer, dass es deutliche Entlastungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber braucht.
Aber vorerst scheint das bei den Sondierungsgesprächen kein so großes Thema gewesen zu sein. Viel zentraler wird über das Budgetloch gesprochen und wie man es stopfen kann.
Dabei scheinen die vermeintlichen Koalitionäre ÖVP, SPÖ und NEOS mehr daran interessiert zu sein, die Steuereinnahmen zu erhöhen, als wirkliche ausgabenseitige Reformen im Staat durchzuführen. Folgende Steuererhöhungen sollen im Gespräch sein:
- Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1-Prozent
- Anpassung der Grunderwerbssteuer
- Erhöhung der Mineralölsteuer
- Einführung der Erbschaftssteuer
Grün-Türkis hinterlässt Budgetloch: Defizit der Staatskassen höher als gedacht
Besonders brisant ist, dass erst nach den Wahlen bekannt wurde, wie hoch das Budgetdefizit wirklich ist. Man wird vermutlich eine Neuverschuldung von 4 Prozent des BIPs ansteuern, was eine Überschreitung der Maastrichtgrenze bedeutet.
Der verantwortliche Finanzminister Magnus Brunner wurde nach Brüssel als EU-Kommissar abkommandiert. Zurück bleibt ein budgetärer Scherbenhaufen von Türkis-Grün.
Es besteht die Gefahr, dass die kommende Regierung zu wenig Augenmerk auf die Ankurbelung der Konjunktur setzen wird und bei wichtigen Investitionen in Infrastruktur, etwa im Verkehrs, Energie und Forschungsbereich zurücksteckt.
Das wäre für den Standort Österreich ein weiterer Dämpfer.