Gesundheitssystem Österreich : Gesundheitswesen: Wenn ein System zum Arzt muss
Das österreichische Gesundheitssystem braucht ärztliche Hilfe. Spätestens seit der Pandemie ist das wohl jedem bewusst.
„Vor 30, 40 Jahren war es wirklich Spitze. Mittlerweile allerdings besteht in verschiedenen Bereichen dringend Handlungsbedarf. So zeigen sich zunehmend Versorgungslücken, dabei wird die Bevölkerung immer älter und braucht mehr Versorgung“, sagt Thomas Czypionka, Leiter der Forschungsgruppe Gesundheitsökonomik und -politik am Institut für Höhere Studien (IHS).
Nie mehr die wichtigsten Nachrichten über Österreichs Wirtschaft und Politik verpassen. Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter: Hier geht’s zur Anmeldung!
Eines der größten Probleme stellen dabei die verwaisten Kassenarztstellen dar. Ende August haben nach Angaben der Ärztekammer österreichweit 182 Allgemeinmediziner und 110 Fachärzte – besonders in den Bereichen Gynäkologie und Dermatologie – gefehlt. Tendenz steigend, erreichen doch zahlreiche Kassenärzte in den kommenden Jahren das Pensionsalter. Die Folge davon: Patienten müssen selbst bei akuten Beschwerden oft wochen- oder monatelang auf einen Termin warten, sofern überhaupt noch neue Patienten aufgenommen werden.
Vom viel zitierten Ärztemangel kann angesichts der Statistiken dennoch nicht gesprochen werden. So ist die Zahl der aktiven Ärzte in den letzten Jahren um 3.000 gestiegen, aktuell gibt es 50.700 aktive Ärzte. „Das ist ein Spitzenwert“, sagt Josef Smolle, Professor am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation der Med Uni Graz, ehemaliger Rektor derselben und ÖVP-Nationalratsabgeordneter.
-
„Das Problem heute ist die Fehlallokation. Die Ärzte sind vorhanden, aber nicht dort, wo sie gebraucht werden“
Josef Smolle, Professor am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation der Med Uni Graz
Infobox: Wahlarztkosten
Im Jahr 2022 haben Patienten etwa 490 Millionen Euro für den Besuch bei einem Wahlarzt ausgegeben. Die Ausgaben der ÖGK für wahlärztliche Leistungen lagen im selben Jahr bei 184 Millionen Euro, das sind 6,6 Prozent der Ausgaben für den niedergelassenen ärztlichen Bereich.
Mehr Plätze im Medizinstudium
Auch für Nachwuchs ist gesorgt, wird doch seit einigen Jahren die Zahl der Studienplätze sukzessive erhöht. Heuer stehen bereits 1.900 zur Verfügung, 2028 sollen es schließlich 2000 Plätze sein. Zum Vergleich: In den 1990er Jahren gab es rund 20.000 aktive Mediziner. Die Politik warnte vor einer Ärzteschwemme und davor, Medizin zu studieren.
„Das Problem heute ist die Fehlallokation. Die Ärzte sind vorhanden, aber nicht dort, wo sie gebraucht werden“, so Smolle. Dass immer weniger Jungärzte ins Kassensystem einsteigen, sondern lieber als Wahlarzt praktizieren wollen, liegt ihm zufolge an der mangelnden Attraktivität der Kassenstellen.
So müssten Wahlärzte anders als Kassenärzte weder ein ganzes Gebiet noch das gesamte Fach abdecken, sondern könne sich bei beiden auf einen kleinen Bereich fokussieren. Auch Honorar und Arbeitszeit können diese selbst festlegen.
„Dazu kommt, dass die Patienten angesichts der Versorgungsengpässe immer mehr dazu bereit waren und sind, für einen Besuch beim Wahlarzt zu zahlen“, sagt Smolle.
Um Kassenplätze wieder attraktiver zu machen und der Bevölkerung eine Versorgung im gewohnten solidarischen System zu ermöglichen, müssten Kassenverträge flexibler gestaltet werden können. Das reiche von Erleichterungen bei der Eröffnung von Gruppenpraxen über die Gestaltung der Arbeitszeit bis zur Möglichkeit, als Kassenärztin in Karenz gehen zu können.
Aber auch der Leistungskatalog – inklusive der Behandlung chronisch Kranker - sollte in den Tarifen besser abgebildet werden. „Wir brauchen ein modernes Bezahlsystem und keine Abrechnung von Einzelleistungen“, sagt auch Czypionka, der darauf hinweist, dass es aktuell nach wie vor zwölf Honorarkataloge in Österreich gibt.
Infobox: Gesundheitsausgaben Österreich
Die laufenden Gesundheitsausgaben im Jahr 2023 lagen in Österreich laut einer ersten Schätzung von Statistik Austria bei 52,28 Milliarden Euro oder 10,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ein nominelles Plus von 2,38 Milliarden Euro im Vergleich zu 2022. Der Löwenanteil, nämlich 40,33 Milliarden Euro, wurde von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungsträgern aufgewendet - dies entspricht einem Anstieg von 4,2 Prozent im Vergleich zu 2022.
Echter Personalmangel in der Pflege
Echte Personalprobleme gibt es jedoch im Bereich der Pflege. „Österreich hat ein massives Problem bei qualifizierten Fachkräften im Pflegebereich. Bis 2030 fehlen 90.000 Pflegekräfte", warnte im Mai etwa die Arbeitsgemeinschaft der Ordensspitäler Österreichs.
Um den zunehmenden Bedarf decken zu könne, müssten pro Jahr an die 8.000 Pflegekräfte ausgebildet werden, so Smolle. Doch die 9.000 vorhandenen Ausbildungsplätze würden nicht zur Gänze in Anspruch genommen. Der Grund dafür sei vor allem im Arbeitsalltag zu suchen.
„Der bürokratische Aufwand bindet viel Zeit und Kraft, die bei der Betreuung der Patienten fehlen“, so Smolle, der angesichts dessen „eine Entrümpelung des Arbeitsalltags“ fordert.
„Das gilt übrigens auch für Spitalsärzte“, sagt Smolle. Auch ein Blick auf die Hierarchien dürfe nicht fehlen. „Pflegefachassistenten und Pflegeassistenten werden kaum wahrgenommen und gewürdigt“, bedauert der Universitätsprofessor.
Die Belastung des Pflegepersonals zu reduzieren, ist auch für Czypionka ein wesentlicher Punkt: „Keiner arbeitet gerne dort, wo er ständig überdurchschnittlich belastet ist“.
Die Folgen davon seien ein Trend zur Teilzeitarbeit sowie eine zunehmende Fluktuation des Personals.
Gesundheitskompetenz fehlt
Dass gerade Spitäler oft unter Ressourcenmangel klagen, dazu trägt Czypionka zufolge aber noch etwas anderes bei – nämlich die hierzulande nur gering ausgebildete Gesundheitskompetenz der Bevölkerung.
„Wer besser oder gut Bescheid weiß, kann sich bei Bagatellproblemen besser selbst helfen. Und 90 Prozent der Fälle in Facharztpraxen und Spitälern sind solche Fälle. Das bindet Ressourcen, die anderswo dringende benötigt würden und kostet zudem Geld“, kritisiert der Gesundheitsökonom und Mediziner.
Nicht zuletzt deshalb müssten auch die Patientenströme besser gesteuert werden. Ein Punkt, dem auch Smolle einiges abgewinnen kann: „In Schweden beispielsweise können Patienten nicht so einfach zum Facharzt laufen“.
Erste Ansätze, die Patientenströme besser zu lenken, sind mit der aktuellen Gesundheitsreform bereits gesetzt worden. Nach dem Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“ werden in den kommenden Jahren digitale Angebote für Patienten sowie die Hotline 1450 ausgebaut.
Neben den bereits erwähnten Lücken in der Versorgung zeigt sich aber noch eine weitere – nämlich in der Versorgung mit Medikamenten: Immerhin 551 Medikamente waren zu Redaktionsschluss am 25. September laut der Website des Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) nur beschränkt oder nicht verfügbar.
All das vor dem Hintergrund, dass das heimische Gesundheitswesen eines der teuersten in Europa ist. Immerhin investiert Österreich rund 10,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in das System. „Wir müssen dringend die Effizienz steigern“, sagt auch Czypionka.
-
„Es gibt dabei zwei grundsätzliche Probleme: Das eine sind die fragmentierten Finanzierung und Zuständigkeiten“
Thomas Czypionka, Leiter der Forschungsgruppe Gesundheitsökonomik und -politik am Institut für Höhere Studien (IHS).
Probleme im Gesundheitssystem: Finanzierung und Zuständigkeiten
Leicht wird das allerdings nicht, wie sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat. Statt einer grundlegenden Reform konnten sich die Stakeholder stets nur auf einzelne Reformschritte einigen.
„Es gibt dabei zwei grundsätzliche Probleme: Das eine sind die fragmentierten Finanzierung und Zuständigkeiten“, sagt Czypionka.
So sind Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung und gesetzliche Interessenvertretungen wie Wirtschafts-, Arbeiter-, Ärzte- und Apothekerkammer, aber auch die Patientenanwaltschaft für verschiedene Teilbereiche des Gesundheitswesens verantwortlich. Das reicht von der Gesetzgebung über die Verwaltung, Qualitätskontrolle und Leistungserbringung bis zur Ausbildung.
Ähnlich aufgestellt ist die Finanzierung des Gesundheitswesens, die bei Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungsträgern liegt.
„Wir haben somit viele einflussreiche Veto-Player. Reformen bilden daher bisher oft nur den kleinsten gemeinsamen Nenner ab und brauchen Jahre oder gar Jahrzehnte“, sagt Czypionka.
Dabei habe sich, so Smolle, während der Pandemie durchaus gezeigt, dass manches durchaus auch rasch gehen könne. So etwa bei der Einführung des E-Impfpasses, der schon seit langem im Gespräch gewesen sei oder Umstrukturierungen, die Organisation betreffend.
„Dieser Schwung ist wieder verebbt“, bedauert Smolle. Gleiches gilt, so Czypionka, für das Datenthema. „Während der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig diese sind und wie schlecht wir aber dabei aufgestellt sind“, sagt der IHS-Experte.
Viel sei aber nicht in Bewegung gekommen: „Die Politik versteckt sich nach wie vor hinter dem Datenschutz. Dabei steht die Bevölkerung der Nutzung von pseudonymisierten Daten relativ offen gegenüber – man sollte daher das Verhältnis zwischen dem Schutz des Individuums und dem Nutzen für die Allgemeinheit abwägen“, so Czypionka.
Er warnt in diesem Zusammenhang davor, die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu vernachlässigen. Ein weiteres strukturelles Problem sei die Tatsache, dass das Gesundheitssystem „auf Reparieren und die Behandlung akuter Erkrankungen, aber weniger auf die Behandlung chronischer Leiden und Prävention ausgerichtet ist“, so der Gesundheitsökonom.
Das zeige sich beispielsweise im Zusammenhang mit den im Herbst wieder stärker auftretenden Infektionskrankheiten. „Nur selten wird darüber geredet, wie die Luftqualität in Innenräumen verbessert und die Übertragung der Atemwegsinfektionen vermieden werden kann. Auch das würde zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz und somit zur Entlastung des Gesundheitssystems beitragen“, sagt Czypionka.
Infobox: Wie wird das Gesundheitssystem finanziert?
Das Gesundheitssystem finanziert sich durch eine Mischung aus einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträgen, steuerfinanzierten öffentlichen Geldern und aus privaten Mitteln und Zuzahlungen z.B. in Form von direkten und indirekten Kostenbeteiligungen. Die solidarische Finanzierung zielt darauf ab, einen gerechten und gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu gewährleisten – unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht oder Herkunft.