EU-Wirtschaft : Kann der Draghi-Plan Europa retten?

Mario Draghi legte einen umfangreichen Bericht mit Vorschlägen zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vor.

Mario Draghi legte einen umfangreichen Bericht mit Vorschlägen zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vor.

- © Europäische Union 2024 – EP

Anfang September präsentierte der ehemalige EZB-Chef und italienische Ministerpräsident Mario Draghi vor dem EU-Parlament seine Empfehlungen für eine Stärkung der europäischen Wirtschaft.

Die EU müsse sich im Wesentlichen auf drei Säulen konzentrieren: die Innovationslücke zu den USA und China schließen; einen gemeinsamen Plan entwickeln, um das Ziel der Dekarbonisierung mit einer höheren Wettbewerbsfähigkeit zu verbinden; und die Sicherheit Europas stärken und seine Abhängigkeit von ausländischen Wirtschaftsmächten verringern.

Dies sei unerlässlich, um den Wohlstand und die europäische Lebensweise erhalten zu können. In seiner Rede vor dem EU-Parlament skizzierte Draghi die Lage der Union schonungslos, ehrlich und pragmatisch. In einer Debatte im Anschluss an Draghis Rede schlossen sich viele Abgeordnete seiner Analyse an, dass die EU-Wirtschaft dringend einen Kurswechsel vornehmen müsse.

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Die EU sollte sich auf Wettbewerb und Innovation in Schlüsselindustrien konzentrieren, zusammen mit mehr öffentlichen und privaten Investitionen in den sozialen, grünen und digitalen Wandel. 

Der plötzliche Sinneswandel in Straßburg klingt zu schön, um wahr zu sein. Inhaltlich ist gegen den Draghi-Plan kaum etwas einzuwenden. Er hat aber bei genauerer Betrachtung mehr als nur einen Haken.

Die Geldmenge im Euroraum hat sich von 9,78 Billionen Euro im Jahr 2012 auf rund 16,4 Billionen Euro im Jahr 2024 fast verdoppelt.

800 Milliarden Euro an Investitionen: welche Quellen gibt es?

Für eine angemessene Finanzierung brauche es 750 bis 800 Milliarden Euro jährlich für Investitionen. Ein Teil dieses Geldes könnte aus privaten Quellen stammen, ein anderer Teil müsste jedoch durch öffentliche Investitionen gesichert werden, unter anderem durch die Ausgabe neuer gemeinsamer Schuldtitel, speziell zur Finanzierung wichtiger gemeinsamer Projekte, so Draghi. Hier offenbart sich Haken Nr. 1.

Woher soll das Geld stammen? Draghi plädiert für weitere gemeinsame, europäische Schulden. Ein Rezept, dem die EU schon seit der Eurokrise 2010 folgt.

Wir erinnern uns: Es war ausgerechnet Mario Draghi als damaliger EZB-Chef, der 2012 verkündete, alles Notwendige zu tun „whatever it takes“ um den Euro zu retten. Es folgte der Ankauf von Staatsanleihen überschuldeter EU-Mitgliedsstaaten durch die EZB. Die Geldmenge im Euroraum hat sich seither von 9,78 Billionen Euro im Jahr 2012 auf rund 16,4 Billionen Euro im Jahr 2024 fast verdoppelt.

In diesem Zeitraum ist die EZB mit 20 bis 30 Prozent zum Hauptfinanzier mehrerer EU-Staaten geworden. Draghi war Architekt des EFSF und später des ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), der bis heute für verfassungsrechtliche Debatten sorgt.

800 Milliarden jährlich entspräche mehr als dem Vierfachen des berühmten Marshallplans nach dem 2. Weltkrieg, welcher von 1948 bis 1952 nach heutigen Maßstäben kaufkraftbereinigt rund 133,95 Milliarden US-Dollar betrug. 800 Milliarden entsprächen rund fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der EU. Kaum verwunderlich, dass Kritiker bei der finanziellen Umsetzung von Draghis Vorschlägen ökonomisches Augenmaß vermissen.

Wir erinnern uns weiter: Im Jahr 2000 versprachen die Regierungschefs der Europäischen Union in Lissabon, die EU innerhalb von zehn Jahren zur „wettbewerbsfähigsten Region“ der Welt zu machen. 2010 verlängerte man angesichts der akuten Euro-Krise und der Schuldenkrise den Zeithorizont bis 2020.

Dann kam die Corona-Pandemie und man rief den Green-Deal aus. Bei der Wettbewerbsfähigkeit an der Spitze zu stehen, wurde ad Acta gelegt. Nun war die Klimaneutralität bis 2050 das erklärte Ziel.

Die Neo-Keynesianische Doktrin der Modern Monetary Theorie bestimmte die Geldpolitik in der Eurozone. Wirtschaftliches Wachstum finanziert durch die Notenpresse. Das ging so lange gut, wie die Produktivität in der gemeinsamen Wirtschaftsunion mit wuchs.

Doch mit Corona hat diese einen Knick erlitten und kommt wegen Fachkräftemangel, Rohstoffknappheit, Lieferkettenproblemen, Handelssanktionen, schwankenden Energiepreisen und mehr nicht mehr an das alte Niveau heran.

Die EU ist mit ihren wirtschaftlichen Zielen, die sie sich seit 2000 und erneut seit 2010 gesetzt hat, gescheitert.

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Was ist die vollendete Kapitalmarktunion?

Das gewaltige Volumen an Mitteln, das es zu mobilisieren gilt, will Draghi über gemeinsame Anleihen finanzieren. Und zwar im Rahmen einer vollendeten Kapitalmarktunion.

Das heißt: eine Haftungsgemeinschaft nicht nur für Notfälle wie die globale Finanz- und die europäische Schuldenkrise, sondern auch für die alltägliche Finanzierung von Investitionen in Höhe von fünf Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Im Klartext bedeutet das eine weitere Zentralisierung der wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenzen der EU-Staaten.

Es braucht keine umfassenden Analysefähigkeiten, um festzustellen, dass die EU mit ihren wirtschaftlichen Zielen, die sie sich seit 2000 und erneut seit 2010 gesetzt hat, gescheitert ist. Insofern stellt Draghis Plan nur noch mehr Wein in alten Schläuchen dar.

Kritik kommt vor allem von Netto-Zahler-Länder wie Deutschland, den Niederlanden oder Finnland. So schrieb der Ökonom Daniel Stelter im Handelsblatt: „Im Kern basiert das Konzept von Draghi auf der Solidität Deutschlands. Unsere verbliebene Kreditwürdigkeit soll gemeinsame Schulden der EU garantieren, die deutschen Transfers den bereits hochverschuldeten Staaten helfen.“

Im Kern basiert das Konzept von Draghi auf der Solidität Deutschlands. Unsere verbliebene Kreditwürdigkeit soll gemeinsame Schulden der EU garantieren, die deutschen Transfers den bereits hochverschuldeten Staaten helfen.

Dieser Befund ließe sich auf Österreich ebenso umlegen. Bezeichnend auch dazu, dass der DIW-Präsident Marcel Fratzscher Draghis Plan als „einzige Möglichkeit“ bezeichnete, um Deutschlands Deindustriealisierung abzuwenden.

Eben jener Marcel Fratzscher findet es aber auch quasi „OK“, wenn die energieintensive Industrie aus Deutschland respektive Europa abwandert. Der offensichtliche Widerspruch entlarvt den Schelm.

Dass die massive Ausweitung der Geldmenge, verbunden mit einem Produktivitätseinbruch in den letzten Jahren die Inflation im Euroraum massiv nach oben getrieben hat, ist ein weiterer Haken an Draghis Plan. Durch die Erhöhung der Leitzinsen ist es der EZB mühevoll und verspätet gelungen, die Geldwertstabilität im Euroraum wieder herzustellen. Nun beginnt man schon wieder die Zügel zu lockern.

Im Klartext bedeutet das eine weitere Zentralisierung der wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenzen der EU-Staaten.

Was bleibt von Draghis Plan?

Summa summarium ist Draghis Bericht mehr ein realistischer Befund zum Zustand der Europäischen Union als ein veritabler Plan zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Prioritäten und Betätigungsfelder wurden richtig erkannt, doch die Erfahrungen der Vergangenheit zeigt, dass große europäische Geldpakete immer sehr ineffizient in ihrer Wirkung waren und, wie zuletzt der Bericht des EU-Rechnungshofes zum Green Deal aufzeigte, selten nach einer klaren Strategie ausgeschüttet werden.

Die Resilienz der europäischen Wirtschaften liegt eigentlich in einem anderen Aspekt begründet: Vielfalt. Die ökonomische Beweglichkeit der einzelnen Volkswirtschaften ermöglichte es etwa Ländern wie Irland, Griechenland oder Schweden durch eigene Anstrengungen und Reformen, die Lage ihrer Volkswirtschaften zu verbessern.

Der Solidaritäts-Tropf aus Brüssel hat hingegen immer wieder dazu geführt, dass Staaten notwendige Reformen nicht durchführten und sich weiter verschuldeten. Der Draghi-Plan klingt eben zu schön, um wahr zu sein.

Er ist es aber wert, weiter debattiert zu werden.