Deindustrialisierung und European Green Deal : Alarmstufe Rot in der Industrie – Brüssel wir haben ein Problem
Die deutsche Chemieindustrie liegt auf der Intensivstation. Wie einschneidend die hohen Energiepreise die Branche belasten, wird am deutlichsten beim Branchen-Primus BASF. Der Chemiekonzern hat sich unlängst ein umfangreiches Sparprogramm von 500 Millionen Euro verordnet. Produktionsanlagen, wie Teile der Ammoniak-Produktion in Ludwigshafen, sollen laut Handelsblatt stillgelegt werden.
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Deutsche Industrie unter Druck
So wie BASF geht es vielen Unternehmen in Europas wichtigstem Industriestandort Deutschland. Vor allem die energieintensiven Zweige, die etwa 20 bis 25 Prozent der deutschen Industrie ausmachen, leiden besonders unter sinkenden Margen und hohen Energiepreisen. Zahlreiche Experten sprechen bereits von einer Deindustriealisierung. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, sieht Deutschlands Geschäftsmodell unter „enormen Stress“ und er hält die Gefahr für eine industrielle Abwanderung für real. Als beliebtes Abwanderungsziel gelten derzeit die USA. Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) vom Oktober 2022 würden rund 62 Prozent der 3.100 befragten deutschen Unternehmen die aktuelle Geschäftslage in Nordamerika positiv bewerten.
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Fast 39 Prozent gaben an, in den nächsten Monaten höhere Investition in den USA tätigen zu wollen. Investitionen in die Eurozone wollen dagegen nur 32 Prozent erhöhen; 26 Prozent der befragten Unternehmen wollen ihr Engagement sogar reduzieren. Die Zahlen alarmieren längst auch Brüssel. Am deutschen Industriestandort hängt direkt oder indirekt fast jeder vierte Arbeitsplatz in produzierenden Gewerben in der EU. Schwächelt der Industriestandort Deutschland bedeutet das auch eine erhebliche Schwäche für die europäische Wirtschaft insgesamt. Um den Industriestandort der Zukunft ist ein beinharter internationaler Wettbewerb zwischen Europa, Asien und den USA entbrannt.
Die neue Industrialisierung Amerikas
Was mit Trumps „America-First“-Politik begonnen hat, wurde unter Präsident Biden, wie von Analysten erwartet, konsequent fortgeführt. Amerikas Abwehrkampf gegen den Verlust der wirtschaftlichen Vormachtstellung. Schön länger gibt es in den USA das Gefühl, wirtschaftlich gegenüber Europa und vor allem China abgehängt worden zu sein. Industrieproduktionen wurden in den letzten 30 Jahren immer mehr abgebaut und nach Asien verlagert, wovon die Rust-Belts in den ehemaligen Industriemetropolen der USA zeugen. Der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung beträgt 2021 in den USA knapp elf Prozent. Im Vergleich dazu lang der Industrieanteil in Deutschland bei knapp 26 Prozent und sogar in Frankreich noch bei 16,8 Prozent. In der Eurozone machte der Anteil der Industrie an der nominellen Bruttowertschöpfung knapp 23 Prozent aus, in Österreich beträgt dieser rund 26 Prozent. Generell ist Industrieproduktion stark in Mittel- und Osteuropa konzentriert. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie und seit Beginn des Krieges in der Ukraine setzten die USA aber auf eine Rückgewinnung ihrer einstigen Industriestärker. Mit dem Inflation-Reduction-Act möchte Präsident Joe Biden Investitionen in saubere Technologien und Produktionen in den USA forcieren.
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Rund 100 Milliarden US-Dollar macht er dafür zur Stärkung des US-Industriestandorts locker. Das ist zwar ein Bruchteil der 5,8 Billionen Dollar an Staatsausgaben, aber eine Verdoppelung der Industrieförderungen. Der Fokus liegt dabei auf strategisch wichtigen Branchen, wie der Mikrochip-Industrie, E-Auto Produktion, Batterien und erneuerbaren Energien. Mit weiteren 400 Milliarden Dollar fördert Biden zudem „Buy-American“. Autos, die in Nordamerika gefertigt wurden, werden mit über 7.000 US-Dollar subventioniert. Erste Auswirkungen zeigt das neue Investitionsgesetz bereits. Der Autobauer Ford zieht einen Teil seiner Forschungsabteilung aus Deutschland ab. 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind betroffen. Das ist insofern bemerkenswert, weil ausgerechnet der F&E Bereich ein fixes Argument für den Industriestandort Deutschland war.
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Doch mit dem Ausstieg aus Verbrennungsmotoren bis 2035, steigenden Energiekosten sowie grassierendem Fachkräftemangel ist gerade der Forschungssektor nicht mehr so zugkräftigt wie einst. Bei der Entwicklung von E-Autos sind die USA mittlerweile interessanter. Mehrere deutsche Autobauer und Zulieferer wie etwa Audi und VW überlegen daher eine Verlagerung der E-Autoproduktion in die USA oder nach China.
Europa ist fest entschlossen, die globale Führung in der Clean Tech Revolution einzunehmen.Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Alarmglocken in Brüssel
Valdis Dombrovskis, der EU-Handelskommissar, sieht darin ebenso ein Problem wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und auch Österreichs Wirtschaftsminister Martin Kocher. „Es gibt die realistische Befürchtung, dass dadurch Unternehmen Produktion aus Europa nach Übersee verlagern", so Kocher. "Tatsache ist, dass die USA, was Investitionen in Elektromobilität betrifft, bereits zu Europa und China aufschließen. Laut dem Informationsdienstleister Atlas EV Hub belief sich der Bestand an Investitionen in den Bau von Elektrofahrzeugen und Batterien bis Ende 2020 in den USA gerade einmal auf 50 Milliarden Dollar. Diese Summe hat sich seither vervierfacht. Bis Ende 2030 soll ein Viertel der weltweiten Investitionen in diese grüne Technologie in den USA stattfinden“, äußerte sich Kocher Ende Jänner gegenüber der Tageszeitung Standard.
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Anfang Februar präsentierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen daher Europas Antwort auf das US-Subventionsprogramm, den „Green Deal Industrial Plan“. „Europa ist fest entschlossen, die globale Führung in der Clean Tech Revolution einzunehmen“, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu. Der Plan sieht vor, die Wettbewerbsfähigkeit von Europas „Nullverschmutzungsindustrie“ (was auch immer das sein soll) und die Transformation in die Klimaneutralität zu erreichen. Zu diesem Zweck soll ein industriefreundlicher Regulationsrahmen, der „Net-Zero Industry Act“ noch bis zum Frühjahr vorgelegt werden. Weiters soll noch im März ein weiterer „Critical Raw Materials Act“ die Beschaffung von strategisch wichtigen Rohstoffen für die Halbleiterindustrie verbessern.
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Was genau man von seiten der EU-Kommission allerdings erreichen will, bleibt vage. Einfachere Genehmigungsverfahren, schnellere Zugang zu Finanzierung, offener Handel und resiliente Lieferketten sowie eine Qualifikationsoffensive für grüne Industriezweige sind nur einige der Schlagworte, mit denen die EU den USA kontern will. Die Subventionspolitik von Washington hat Brüssel so dermaßen am falschen Fuß erwischt, dass EU-Kommissionspräsidentin sich Mitte März mit Präsident Biden traf, um die die negativen Auswirkungen auf Europa zu besprechen. Ob es zu einer „Entspannung“ kommt ist fraglich, denn die USA fordern von Europa ein Abrücken von China, was vor allem die Deutschen schwerlich akzeptieren können.
Grüne Abhängigkeit vom roten Drachen
Immerhin die EU will die Abhängigkeit mit dem neuen Grünen Industrieplan von China begrenzen. In recht planwirtschaftlicher Manier will Brüssel bis 2030, dass 40 Prozent der grünen Technologien in Europa hergestellt werden. Künftig soll es Produktionsquoten für Windräder, Solarzellen, Batterien und Wärmepumpen für „Made in Europe“ geben. Wie diese Pläne aber in der strategischen Tiefe umgesetzt werden sollen, und das in knapp sieben Jahren ist völlig offen. Voraussetzung wäre, dass Europa zuallererst strategische Partnerabkommen mit alternativen Rohstoff- und Produktionsländern abschließt. Am Ende bleiben Pläne meistens Theorie, denn wie massiv die grünen Abhängigkeiten Europas von China sind, haben die Wirtschaftsnachrichten bereits im vergangenen Jahr ausführlich berichtet.
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Klimapolitik bremst Industrie aus
Nicht vergessen sollte man aber auch den Zusammenhang zwischen Dekarbonisierung und Deindustrialisierung. Nicht zuletzt die strengen Klimagesetze, die weltweit ihres Gleichen suchen, belasten den Industriestandort Europa. Mit dem „Fit für 55“-Programm will die EU bis 2030 die Emissionen um mindestens 55 Prozent senken. Bis 2050 soll die Klimaneutralität erreicht werden. Dass dies für einige energieintensive Branchen schlicht unmöglich ist, wird dabei ausgeblendet. Dabei droht eine Kettenreaktion unterschiedlicher Maßnahmen, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie endgültig zu unterlaufen. Beispielsweise führen eine höhere Energiebesteuerung, die Ausweitung des EU-Emissionshandelssystems sowie strenge Klimaauflagen für Lieferketten dazu, die Produktionskosten in Europa zusätzlich zu verteuern. Die Energiekosten sind dabei zentral, wie eine Studie der PwC-Tochter Strategy& aufzeigt.
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Erst 2024 rechnet man mit einer Entspannung am Energiemarkt. Erster Effekt könne sein, dass es zu Verlagerungen energieintensiver Branchen innerhalb Europas, beispielsweise von Deutschland nach Spanien oder Frankreich, kommt, da dort die Energiekosten dank höherer Quote von Atomenergie noch deutlich niedriger seien als im Rest Europas. Zweiter möglicher Effekt: Auslagerung ins EU-Ausland, vor allem nach Asien aber auch nach Afrika. „Viele Unternehmen könnten sich zukünftig dazu entscheiden, ihre Produktion innerhalb Europas neu aufzustellen oder gänzlich aus Europa abzuziehen“, sagte Strategy&-Europachef Andreas Späne. Gleichzeitig besteht in der grünen Transformation der Industrie die große Chance für Europa.
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Allerdings braucht es dazu Geld, Fachkräfte und Rohstoffe. Aktuell fehlt der EU die strategische Tiefe, um den Green Deal abzusichern. Partnerabkommen mit wichtigen Rohstoff- und Produktionsländern fehlen. Auch in der Energieversorgung braucht es strategische Abkommen, denn Europa ist auf lange Sicht nicht in der Lage, seinen Primärenergieverbrauch selbst zu decken. Daher sind Energieimporte etwa von grünem Wasserstoff, grünen Gasen etc. auch in Zukunft unersetzbar. Diese müssen aber in Ländern hergestellt werden, wo es ganzjährig ein großes Angebot an erneuerbaren Energiequellen gibt.
Wir haben die Existenz unserer energieintensiven Industrie definitiv nicht abgesichert.Stefan Stolitzka, IV-Präsident Steiermark
Heimische Industrie im Alarmmodus
Wenn Deutschland Schnupfen hat, liegt Österreich krank im Bett. So lautet ein gängiger Spruch in Unternehmerkreisen. Längst ist auch der heimische Industriestandort von den Sorgen erfasst worden, die unsere nördlichen Nachbarn schon länger plagen. „Die Krise ist weder vertagt noch abgesagt“, betont IV-Steiermark-Präsident Stefan Stolitzka. „Im Gegenteil: Wir haben die Existenz unserer energieintensiven Industrie definitiv nicht abgesichert“, meint Stolitzka, der in seiner Neujahrsansprache noch darauf hinwies, dass die Lage der Energiekosten in Österreich sogar noch schlimmer sei als in Deutschland. „Bei den Preisen für Energie haben wir in Österreich gemeinsam mit Ungarn und Rumänien die schlechteste Lage in Europa.
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Wir zahlten im letzten Jahr bis zu 100 Euro mehr pro MWh Strom als in Deutschland. Das ist ein Drittel.“ Das koste der heimischen Industrie bereits 20 bis 30 Prozent der Aufträge, weil man gegenüber Konkurrenten in Europa und außerhalb Europas nicht mehr konkurrenzfähig sei. Es brauche daher mehr Maßnahmen für Planungssicherheit.
Klimafreundlichsten Industriestandort stärken
In der Steiermark wird weltweit mit dem geringsten CO2-Ausstoß weltweit produziert und damit jährlich weltweit 750 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Das entspricht etwa dem Neunfachen des CO2-Ausstoßes von Österreich pro Jahr. Zwischen 2008 und 2021 ist der Produktionsindex in Österreich um knapp 30 Prozent gestiegen, der Ausstoß von Treibhausgasen im gleichen Zeitraum hingegen gesunken. Hierzulande hat also längst eine Entkoppelung von Produktion und Emission stattgefunden. Generell gilt Europa als der klimafreundlichste Industriestandort der Welt, gemessen an CO2-Emissionen pro BIP-Einheit. Diesem Umstand sollte die Politik mehr Rechnung tragen. Beispielsweise verursacht die Herstellung von Betonstahl in Asien um 50 Prozent mehr CO2 als in Österreich.
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Vom Regen in die Traufe
Als stünde die europäische Industrie mit den Energiekosten und den Klimagesetzen nicht schon genug unter Druck kommt ein altbekanntes Problem hinzu: der Fachkräftemangel. Bis zu 200.000 Arbeitskräfte sollen in wenigen Jahren allein in der deutschen Industrie fehlen. Mit Zuwanderung ist das Problem längst nicht zu lösen, vor allem weil sich die europäischen Länder untereinander die Arbeitskräfte streitig machen.
Bleibt nur eine große Digitalisierungsoffensive: Diese fehlt in Europa immer noch, um die Produktion zukunftsfit zu machen. Im aktuellen WIFO-Radar der Wettbewerbsfähigkeit ist Österreich erneut zurückgefallen, auch im Ranking des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) kann der heimische Wirtschaftsstandort kaum noch mit der Weltspitze mithalten. Doch hier schließt sich wieder der Kreis: es fehlen IT-Fachkräfte, um den Prozess rasch umzusetzen. Investitionen fließen hier ebenfalls stark in die USA ab. Für den Aufbau einer europäischen Chip-Infrastruktur braucht es wesentlich mehr Geld, als die von der EU kolportierten 43 Milliarden für den European-Chip-Act.
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Um sich aus der asiatischen Umklammerung zu lösen, reicht das noch nicht aus. Die EU muss sich auch bei der Digitalisierung beeilen. Die USA fördern ihre Chip-Industrie mit 76 Milliarden und China sogar mit 143 Milliarden US-Dollar. Für die Industrie ist die Digitalisierung ein weiterer Erfolgsfaktor für die Zukunft. So könnten laut Branchenverband VDA bis 2026 fehlende Chips ein Fünftel der Autoproduktion zusätzlich drosseln. Damit wird auch die E-Mobilität in Europa kaum vom Fleck kommen.
Die europäische sowie die heimische Industrie werden also weitere Stresstests bekommen. 2023 dürfte ein entscheidendes Jahr dafür werden: Sinken die Energiekosten, oder nicht? Eines ist jedenfalls sicher: verliert Europa seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit, so verlieren wir nicht nur Wohlstand, sondern auch den Kampf gegen die Klimakrise.