Interview mit Prof. Gabriel Felbermayr : Europa muss sich rechnen

Der gefragte Ökonom Gabriel Felbermayr, der seit 2021 als Chef des WIFO regelmäßig mit Wirtschaftsprognosen und aktuellen Studien an die Öffentlichkeit tritt, zeigt in seinem neuen Buch „Europa muss sich rechnen“ in pointierter Analyse die wirtschaftliche Rolle Europas in der Welt auf.

Der gefragte Ökonom Gabriel Felbermayr, der seit 2021 als Chef des WIFO regelmäßig mit Wirtschaftsprognosen und aktuellen Studien an die Öffentlichkeit tritt, zeigt in seinem neuen Buch „Europa muss sich rechnen“ in pointierter Analyse die wirtschaftliche Rolle Europas in der Welt auf.

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WN: Inflation, Energiekrise, steigende Staatsverschuldung, sinkende Wettbewerbsfähigkeit, löchrige Außengrenzen, Herr Prof. Felbermayr, ist Europa noch zu retten?

Felbermayr: Es muss zu retten sein! Wir haben keine Alternative. Aber wir – die Bürgerinnen und Bürger, die Politik – werden uns anstrengen müssen. Es gibt eine Vielzahl von europapolitischen Baustellen, und für diese braucht es mutige, innovative Bauleute.

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WN: Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Europa muss sich rechnen“, dass unser Schicksal – auch aufgrund unserer geografischen Lage in der Mitte des Kontinents - quasi vorgezeichnet ist. Die Schweiz schafft es ohne EU. Hätte auch Österreich ohne EU wirtschaftlich eine Chance?

Felbermayr: Auch die Schweiz profitiert ganz massiv von der EU. Gäbe es die EU nicht, wäre die Schweiz von verarmten, vielleicht militärisch aggressiven Nachbarn umgeben, mit denen nicht gut Geschäfte zu machen ist. Die Schweiz ist in vielerlei Hinsicht ein Trittbrettfahrer. Wenn sich alle Länder in Europa so verhalten, dann wäre unser Wohlstand massiv gefährdet.

In „Europa muss sich rechnen“ stellt Gabriel Felbermayr Elemente einer zukunftsfähigen Europäischen Union vor. Das Prinzip bei allen Überlegungen war, dass die Vorschläge einerseits eine Chance auf Umsetzung haben sollten, andererseits auch wirklich Verbesserungen darstellen, die den Wert der EU für ihre Bürgerinnen und Bürger erhöhen.
In „Europa muss sich rechnen“ stellt Gabriel Felbermayr Elemente einer zukunftsfähigen Europäischen Union vor. Das Prinzip bei allen Überlegungen war, dass die Vorschläge einerseits eine Chance auf Umsetzung haben sollten, andererseits auch wirklich Verbesserungen darstellen, die den Wert der EU für ihre Bürgerinnen und Bürger erhöhen. - © Brandstätter Verlag aus der Reihe „Auf dem Punkt“

WN: Die Mehrheit der Bevölkerung klagt über die noch immer sehr hohe Inflation im Land. Worauf sollte sich die EU konzentrieren, um den Menschen Sicherheit in unsicheren Zeiten zu vermitteln?

Felbermayr: Die Energiekrise, die ja die Inflation ins Rollen brachte, zeigte sehr deutlich, dass wir in der EU keinen gemeinsamen Binnenmarkt für Strom oder Gas haben. Dazu fehlen die Institutionen und auch die Infrastruktur. Hier braucht es radikale Reformen. Und auch andere Bereiche des Binnenmarktes funktionieren nicht gut genug. Wie kann es sein, dass etwa identische Lebensmittel in Deutschland um 14 Prozent billiger sind als in Österreich. Hier gibt es offenbar immer noch massive Verwerfungen an den Grenzen. Dabei ist es der Binnenmarkt, aus dem Europa seine Stärke und auch seine wirtschaftliche Sicherheit zieht. Daneben muss man auch über die Fertigstellung der Schengenzone reden: Wenn die EU-Außengrenzen wirksam und spürbar und vor allem gemeinsam geschützt werden, wäre ein Sicherheitsgewinn für alle drin.

WN: Mit Einführung der Euro Währungsunion sollte u.a. der Binnenmarkt Europa gestärkt werden. Hält der Euro, was man sich von ihm erwartet hat?

Felbermayr: Ja und Nein. Der Euro hat den Mitgliedern sehr lange sehr niedrige Inflation gebracht. Er hat Transaktionskosten absenken geholfen und den Wettbewerb belebt. Aber das Projekt ist auch noch unvollständig. Wir haben in der EU keinen wirklichen gemeinsamen Kapitalmarkt, das benachteiligt unsere Wirtschaft massiv, zum Beispiel im Vergleich mit den USA. Und wir brauchen neben einer gemeinsamen Geldpolitik auch ein Mindestmaß einer gemeinsamen Fiskalpolitik. Eine halbfertige Währungsunion ist eine ständige Quelle von Problemen.

WN: Innerhalb der Eurozone sind die Teuerungsraten sehr unterschiedlich. Steht das in Zusammenhang mit der Geldpolitik der EZB?

Felbermayr: Die Geldpolitik der EZB muss sich nach der durchschnittlichen Inflationsrate richten. Weichen die Mitgliedsländer davon ab, Österreich aktuell etwa sehr deutlich, dann sind die nationalen Regierungen gefragt. Denn die EZB kann ja nicht für die einzelnen Länder unterschiedliche Zinssätze festlegen.

WN: Welche Aufgaben der EU sollten Ihrer Meinung nach zentral angesiedelt sein und wo macht es Sinn, die Verantwortung bei den einzelnen Mitgliedsstaaten zu belassen?

Felbermayr: Die EU muss sich um jene Themen kümmern, deren Zentralisierung einen klaren Mehrwert für die Menschen bringt. Dazu gehört die Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter, wie zum Beispiel grenzübergreifende Verkehrsinfrastruktur, der Schutz der Außengrenzen der EU, der Aufbau von europäischen Forschungsinstitutionen, die mit Harvard mithalten können. Dazu gehören auch gemeinsame Regeln und Regulierungen. Wo der europäische Mehrwert fehlt, sollten die Mitgliedsstaaten entscheiden. Aber es ist kaum zu argumentieren, warum etwa die Bezuschussung der Landwirtschaft nicht in nationaler Zuständigkeit ist. Insgesamt aber gilt, dass wohl mehr Kompetenzen nach Brüssel gehen sollten, wofür es dann aber auch eine starke, demokratische Legitimation bedürfte.

WN: Viele EU-Bürger sind von der europäischen Idee durchaus überzeugt, werden jedoch von der Abgehobenheit der bürokratischen Institutionen abgestoßen. Können Sie das nachvollziehen?

Felbermayr: Ja, klar. Kaum jemand versteht, was in den Brüsseler Türmen passiert und warum. Ein bisschen hat das damit zu tun, dass die Mitgliedsstaaten gerade die unattraktiven Politikfelder vergemeinschaftet haben, bei denen die Komplexität hoch und die direkt spürbare Betroffenheit für die Menschen hoch sind. Wenn uns etwas an Europa liegt, muss die EU auch Politikfelder übernehmen dürfen, die nahe bei den Menschen sind und sehr sichtbare Effekte haben. Ein Beispiel wäre etwa der Schutz der gemeinsamen Außengrenzen.

WN: Die vier Freiheiten des Binnenmarktes von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personenfreizügigkeit sind ein wirtschaftlicher Segen. Die Kehrseite der Medaille ist die Einwanderungspolitik, die mit den EU-Schengengrenzen offensichtlich nicht funktioniert. Wie wäre dieses Problem aus Ihrer Sicht zu lösen?

Felbermayr: Das ist ein großes Thema. Die Wahrheit ist, dass Personenfreizügigkeit im Inneren eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik erfordert. Die ist in Europa aber nur embryonal ausgebildet. Das Thema zeigt ein in anderen Bereichen ebenfalls sichtbares Problem auf: man hat die relativ einfachen Integrationsschritte vollzogen, ohne aber die notwendigen, oft schwer herzustellenden, Vorbedingungen zu erfüllen. Wir brauchen dafür aber finanzielle Mittel. Ohne eine zielgerichtete Einwanderungspolitik und ohne funktionierende Personenfreizügigkeit werden wir es in Europa ganz schwer haben, mit der Alterung der Bevölkerung gut umzugehen.: